In jedem Ende liegt ein Neubeginn
Abschied nehmen - von liebgewordenen Menschen, Kolleginnen und Kollegen, von Gewohntem, von Bestätigung, Alltagsstruktur, von sinnstiftender Arbeit, vom Gefragt-Sein... Die Liste kann unendlich werden. Und im Innern bleibt ein Unbehagen. Ich vermute, dass sich das erst mit der Zeit wandeln wird. Doch in was? Bei mir stand Ende September der Übergang ins Rentnerdasein an. Ein Schritt, den man nicht umsonst auch das kleine Sterben nennt. Verlässt man doch - wie in meinem Fall - Jahre der Erfüllung, des Erfolges, des Misserfolges. Es war eine Zeit, in der die Berufstätigkeit im Vordergrund stand und vieles andere hintenanstehen musste.
An Ratschlägen für die Zeit in Rente fehlt es nicht. „Sei froh, jetzt kannst du endlich mal auf lange Reisen gehen und das Leben genießen“, „Dich mit solchen Fähigkeiten kann man doch noch brauchen “, „Du hast so viel Erfahrung und findest sicher noch etwas Neues, ganz anderes“ … um nur ein paar zu nennen. Das ist alles gut gemeint, doch im Moment bin ich noch in der Phase des Abschieds. Dabei hilft mir, die verschiedenen Stationen der letzten 34 Jahre durchzugehen im Sinne einer „Révision de Vie“. Zu sehen, was ich alles erleben durfte, welche Unterstützer und Unterstützerinnen ich hatte, was gut gelaufen ist und was nicht so gut lief. Es gibt eine Seite in mir, die traurig ist, weil erstmal vieles wegbrechen wird. Hier meine ich nicht die großen Gesten, sondern die kleinen Dinge des Alltags, die in ihrer Summe das Ganze ausmachen. Und schon wieder bin ich beim kleinen Sterben.
Doch es gibt noch eine Seite, die der Dankbarkeit für einen Beruf, der mir sehr viel gab und mich ganz erfüllte. Dankbarkeit für den Rahmen, den mir das Landvolk bieten konnte, um das zu tun, was für mich mehr war als Arbeit. Hier ein herzliches Vergelt’s Gott an die Vorstandschaft, die Mitglieder, meine Kolleginnen und Kollegen. Ich konnte so meine Berufung leben, mit vielen ganz unterschiedlichen Menschen, Familien in ihren Betrieben und Wohnungen in Kontakt sein, ihr Vertrauen spüren und ihren Geschichten aufmerksam zuhören. Wenn ich auf dem Weg war auf die Höfe, hatte ich nie das Gefühl, ich gehe zur Arbeit. Ich besuchte Menschen mit ihren Verstrickungen, schwierigen Situationen, Konflikten und gemeinsam machten wir uns auf den Weg, Veränderungsschritte und Lösungen zu entwickeln.
Es ist eine ambivalente Zeit für mich, und so meldet sich eine weitere Seite in mir, die eine aufkommende Leere spürt. Sollte sie sich einstellen, habe ich nicht vor, mich in einen Aktionismus zu stürzen. Ich werde sie annehmen und mit ihr umgehen. Ich werde versuchen - wie immer in meinem Leben - mich auf das einzulassen was kommt. Ich vertraue auf die Zusage, die uns unser Glaube lehrt, dass wir als Individuen wertvoll sind, ohne Leistung erbringen zu müssen und ich habe keine Angst vor langer Weile, wer weiß schon, was aus dieser erwachsen kann.
Eine weitere Seite in mir ist neugierig auf das, was kommen wird, was ich an Neuem in mir entdecken werde, welche Herausforderungen auf mich zukommen, welche Schätze sich mir offenbaren- und welche Türen sich öffnen werden. So schaue ich dankbar in die Zukunft und hoffe auf weitere erfüllte Jahre.
Michael Wehinger
Leitung Landwirtschaftliche Familienberatung
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